Flächen entwickeln, Modelle für das junge Wohnen fördern, Wiesbadens Verkehrssituation nachhaltig entlasten und die mittelständische industrielle Stadtkultur wiederherstellen.
Der Wohnraumversorgung, insbesondere mit Angeboten für Personen mit niedrigen und mitt-leren Einkommen, kommt in Wiesbaden eine vielfältige, für die Entwicklung von Stadt und Wirtschaft nachhaltig wichtige Bedeutung zu. Für den Wiesbadener Industriebeirat als Vertretung der lokalen Industrieunternehmen stehen dabei zwei Aspekte im Vordergrund:
Die lokale Wohnraumsituation als Rahmenbedingung für das Recruiting von Fachkräften im ohnehin harten Wettbewerb um Fach- und Arbeitskräfte stellt die stark angespannte Lage am Wiesbadener Wohnungsmarkt einen strategischen Nachteil gegenüber anderen Standorten dar.
Das Wiesbadener Amt für Statistik und Stadtforschung beschreibt die Situation wie folgt: „Dass Wiesbaden ein hohes Preisniveau aufweist und in Zeiten angespannter Märkte kaum Abwärtstrends zu erwarten sind, ist keine neue Erkenntnis. In fast allen betrachteten Teilindikatoren ist allerdings sichtbar, dass die Dynamik in den letzten Jahren nochmals zugenommen hat und die Versorgung mit preisgünstigem Wohnraum für viele Bevölkerungsgruppen weiter erschwert ist.“1 Trotz zunehmender Bautätigkeit steigen die Mietpreise signifikant und es besteht eine Unterversorgung mit preisgünstigeren Wohnungen. Hierbei spielt der zunehmende Wegfall von Wohnungen aus der sozialen Förderung eine verstärkende Rolle.2 Steigende Einwohnerzahlen für Wiesbaden drohen diese Situation weiter zu verschärfen.3 Für die Industriebetriebe ist die Situation besonders gravierend, da sie in vielen Bereichen der Produktion und Logistik auch Arbeitskräfte mit geringerer Qualifikation und entsprechend niedrigeren Einkommen beschäftigt. Gerade für diese Gruppe sowie für Menschen in Studium oder Ausbildung ist es sehr schwer bis unmöglich, in Wiesbaden eine adäquate Wohnung zu finden. Doch selbst für Personen mit mittlerem Einkommen ist die Wohnungssuche in Wiesbaden eine Herausforderung. Auch die Wohnraumknappheit führt dazu, dass derzeit viele Arbeitsplätze in Wiesbadens Industriebetrieben nicht besetzt werden können. Siehe dazu auch das Positionspapier des Wiesbadener Industriebeirats „Wiesbadener Industrie braucht Fachkräfte zur Zukunftssicherung“ (Oktober 2023).
Die Alternative, zum Arbeitsplatz zu pendeln, stellt angesichts zunehmender Mobilitätsengpässe keine zukunftsfähige Option dar. Es gilt, die Themen Fachkräftemangel, Wohnraumangebot und Mobilität in diesem Sinne systematisch zusammenzudenken. Eine Analyse des Wiesbadener Amts für Statistik und Stadtforschung zeigt die Dimensionen: Immer mehr Menschen pendeln zu ihren Arbeitsstätten. Rund 77.700 Einpendler kommen täglich in die hessische Landeshauptstadt.4 Arbeiten und Wohnen finden immer häufiger nicht am gleichen Ort statt. Diese Tendenz bestätigen die Wiesbadener Industriebetriebe, deren Belegschaften aktuell bis zu 80 Prozent aus dem Umland des Taunus, des Rheingaus und des Mainzer Raums nach Wiesbaden pendeln. Die aktuelle Anbindung dieser Einzugsgebiete durch den ÖPNV an die Landeshauptstadt stellt für die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine akzeptable Alternative zum Pkw dar. Insbesondere Schichtarbeitende, wie sie in vielen Bereichen der industriellen Produktion tätig sind, werden – solange sie im Umland wohnen – langfristig auf den Individualverkehr angewiesen bleiben.
Die Verkehrssituation in Wiesbaden und den Zufahrten nach Wiesbaden wird von Bewerberinnen und Bewerbern wie von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als äußerst belastend beschrieben – Stichwort „Stauhauptstadt Wiesbaden“. Diese Situation wird sich durch den Ausbau des ÖPNV, die absehbare Fertigstellung der Salzbachtalbrücke sowie weitere Investitionen in die Straßeninfrastruktur punktuell verbessern, im Ganzen aber nicht nachhaltig lösen lassen. Die Reduzierung des Pendelverkehrs ist daher ein langfristig wichtiges Element zur Entlastung der Verkehrssituation in und um Wiesbaden.
Die Schaffung von Wohnraum für alle Einkommensschichten stellt für Wiesbadens Wirtschaft und vor allem die Industriebetriebe einen zentralen Standortfaktor dar. Folgende Ansätze können aus Sicht des Industriebeirats zur Lösung der Wohnraumproblematik beitragen:
Der Industriebeirat fordert die Stadt auf, ihre strategische Perspektive der Flächenentwicklung zu stärken und die langfristige integrierte Planung sowohl für Wohn- als auch Gewerbegebiete konsequent fortzusetzen. Grundlage dazu sollte ein Flächenmonitoring sein, das einen Überblick über Bauaktivitäten und Potenzialflächen bietet und als Informationsgrundlage für zukünftige Flächenbedarfe dient. Entwicklungshemmnisse müssen identifiziert und möglichst beseitigt werden. Der geplante neue Flächennutzungsplan muss ausgewogen sein in der Berücksichtigung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Anforderungen. Dabei zählt die Schaffung von Wohnraum zu den besonders wichtigen sozialen Aspekten. Zugleich ist bezahlbarer Wohnraum über den Effekt einer Reduzierung des Pendelverkehrs ein Schlüsselfaktor für die Verbesserung der verkehrstechnischen Situation in und um Wiesbaden.
Zur Realisierung der benötigten Flächen gehört, unter Berücksichtigung der Wohnqualität der Wiesbadener Quartiere, auch die weitere Verdichtung in Form der Nachverdichtung sowie der Erhöhung der Geschosszahlen. Flächen und Gebäude im städtischen Besitz sollen nach Möglichkeit über temporäre Nutzung mit Konzeptvergabe zur zusätzlichen Deckung des Wohnraumbedarfs eingesetzt werden.
Der Industriebeirat empfiehlt der Stadt, alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Nachbarkommunen zur Nutzung der Potentiale interkommunaler Gebiete auszuschöpfen.
Um die Bautätigkeit zu erhöhen, sollten Planungsverfahren beschleunigt werden. Der Industriebeirat fordert die Stadt auf, alle Möglichkeiten der Standardisierung und der Digitalisierung zu nutzen, um die entsprechenden Prozesse zu optimieren.
Studierende und Auszubildende stehen als zukünftige Fachkräfte für die Zukunft der Wiesbadener Industriebetriebe. Die Ausbildungsangebote des Dualen Systems und das Studienspektrum der Wiesbadener Hochschulen können ihre Zielgruppe nur dann erreichen, wenn in Wiesbaden ein strukturell und preislich passendes Angebot an Wohnraum zur Verfügung steht. Hierbei können Angebote jenseits des regulären Wohnungsmarktes eine hilfreiche Rolle spielen.
Eine naheliegende Option sind Wohnheime. Der Wiesbadener Industriebeirat begrüßt die Pläne der Stadt Wiesbaden zur Errichtung und zum Betrieb eines Azubi-Wohnheims. Geplante Azubi-Wohnheime dürfen aus Sicht der Wiesbadener Industrie allerdings auf keinen Fall bestimmten Ausbildungsberufen vorbehalten sein. Der Industriebeirat steht als Ansprechpartner für eine bedarfsgerechte Planung solcher Wohnheime zur Verfügung und kann dabei insbesondere die spezifischen Bedürfnisse der am Standort Wiesbaden dringend gesuchten Auszubildenden in technischen Berufen einbringen.
Auch für das studentische Wohnen bietet sich der Industriebeirat, zu dessen Mitgliedern unter anderem die Hochschule Fresenius und die Hochschule RheinMain gehören, der Stadt Wiesbaden als Planungspartner an. In Sachen Studierendenwohnheim ist die Stadt insbesondere gefordert, bei der Suche oder dem Ausweis geeigneter Bauflächen aktiv zu werden.
Der Industriebeirat empfiehlt darüber hinaus eine Kooperation zwischen den Hochschulen, Industriebetrieben und der Stadt bei der Etablierung alternativer Wohnraumprojekte. Insbesondere der Generation 60+ stehen als Eigentum oder selbst gemietete Wohnungen teilweise ungenutzte Wohnraumressourcen zur Verfügung. An zahlreichen Studienorten hat es sich als produktiv erwiesen, diesen über Untervermietung Studierenden zugänglich zu machen, ganz gleich, ob über ein reguläres bezahltes Untermietverhältnis oder durch einen Vertrag „Wohnen gegen Hilfe“. Wohnprogramme für Studierende und ebenso für Azubis, die von Stadt und lokaler Wirtschaft organisatorisch und ideell mitgetragen und beworben werden, dürften eine schnellere und nachhaltige Akzeptanz erfahren. Der Industriebeirat bietet ausdrücklich eine Kooperation als Partner bei der Planung, Installation und der Werbung für solche Projekte an.
Mit Sorge betrachten die Mitglieder des Wiesbadener Industriebeirats eine Tendenz der „Ghettoisierung“ in Wiesbaden. Die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Stadtteilen mit prekären Wohnverhältnissen und überdurchschnittlich luxuriösen Wohngebieten nimmt spürbar zu. Dieses Auseinanderklaffen beschädigt die wesentliche kulturelle und soziale Integrität Wiesbadens. Es fehlt zunehmend eine mittelständische Stadtkultur. Gerade dieser sehen sich die Wiesbadener Industrieunternehmen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders verbunden und verpflichtet.
Eine weitsichtige Wohnraumpolitik, die auch die Möglichkeiten und Bedürfnisse von Menschen geringer und mittlerer Einkommen berücksichtigt und ihnen ein Zuhause in Wiesbaden selbst bietet, gehört zu den wichtigsten Perspektiven der kulturellen und bürgergesellschaftlichen Stadtentwicklung der Landeshauptstadt. Die Wahrung und Wiederherstellung der Industriestadtkultur muss zugleich als ein strategischer Erfolgsfaktor im weiteren Wettbewerb um Fachkräfte angesehen werden. Für den Erhalt und die langfristige Stärke der Wirtschaft Wiesbadens ist sie unverzichtbar.
1 Siehe Wiesbadener Stadtanalysen. „Wohnen in Wiesbaden III: Immobilienmarkt und Mietpreise“, August 2021.
2 Siehe Wiesbadener Stadtanalysen „Wohnen in Wiesbaden 2022 – Wohnungsangebot“, Januar 2023.
3 Siehe „Neue Bevölkerungsvorausberechnung für Wiesbaden“, Pressemeldung der Landeshauptstadt Wiesbaden, 29. September 2023 (www.wiesbaden.de/presse/).
4 Siehe „Amt für Statistik und Stadtforschung hat Analyse zu den Pendlern vorgelegt“, Pressemeldung der Landeshauptstadt Wiesbaden, 27. April 2020 (www.wiesbaden.de/presse/).