Positionspapier #1

Zukunftsfähige Berufsschule

September 2022

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Attraktive Berufsschulen – Starke Industrie – Attraktives Wiesbaden

Positionspapier des Wiesbadener Industriebeirats zum Konzept „Zukunftsfähige Berufsschule“ in Hessen

Betriebliche Ausbildung ist wichtigste Säule der Nachwuchsgewinnung
Betriebe und Berufsschulen müssen auch in Zukunft gut erreichbar bleiben!

Die Duale Berufsausbildung bietet vielen jungen Menschen einen Einstieg ins Berufsleben. Für die Industrie stellt sie die wichtigste Säule der Nachwuchssicherung dar. Die Unternehmen bieten daher auch weiterhin eine große Zahl an Ausbildungsberufen an, so dass alle Interessen der Bewerberinnen und Bewerber abgedeckt und genügend Fachkräfte gewonnen werden können.

In den letzten Jahren zeigt sich allerdings in vielen Betrieben ein deutlicher Rückgang der Bewerberzahlen. Der Aufwand geeigneten Nachwuchs zu finden steigt weiter an und ist mit zusätzlichen Kosten verbunden. Viele Ausbildungsstellen können trotz der hohen Anstrengungen nicht mehr besetzt werden. Aufgrund der Corona-Pandemie war für viele Jugendliche zudem die Möglichkeit der Berufsorientierung stark eingeschränkt, da Betriebserkundungen, Praktika und Ausbildungsmessen nicht durchgeführt werden konnten.

Das Duale Ausbildungssystem als Kombination aus schulischer und praktischer Ausbildung ist ein weltweit anerkanntes Erfolgsmodell. Während in den Betrieben die praktischen Fähig-keiten und Fertigkeiten vermittelt werden, leisten die Berufsschulen mit der Vermittlung der fachlich-theoretischen Inhalte ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Eine gute Lernortkooperation ist wichtiger Baustein für eine erfolgreiche und attraktive Ausbildung.

Neben den Interessen der jungen Menschen spielt für die Berufswahl häufig die Nähe des Ausbildungsbetriebs und der Berufsschule zum Wohnort eine entscheidende Rolle. Dabei ist zu bedenken, dass viele Auszubildende zunächst noch minderjährig und daher auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Lange Anfahrtszeiten sind also neben der persönlichen Neigung durchaus ein wichtiges Entscheidungskriterium der Jugendlichen bei der Wahl ihrer Ausbildung bzw. auch des Ausbildungsbetriebs.

Die Unterzeichner sehen in dem Konzept des Hessischen Kultusministeriums und des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen („Duale Ausbildung am Wirt-schaftsstandort Hessen – die zukunftsfähige Berufsschule“) die Gefahr, dass sich junge Menschen gegen bestimmte Ausbildungsberufe entscheiden, die mit unverhältnismäßig langen Fahrzeiten zum Berufsschulstandort verbunden sind. Das oben genannte Konzept sieht vor, Fachrichtungen mit zu wenigen Schülerinnen und Schülern in regionalen Klassen oder Landesklassen zu konzentrieren und dabei gleichzeitig den ländlichen Raum zu stärken. Hieraus würde sich aus unserer Sicht ein erheblicher Nachteil bei der Rekrutierung von dringend benötigten Bewerberinnen und Bewerbern ergeben. Denn die Erfahrung zeigt, dass Ausbildungsbetriebe umso mehr Probleme haben einen Ausbildungsplatz zu besetzen, je weiter die Be-rufsschule vom Ausbildungsbetrieb bzw. vom Wohnort entfernt liegt.

Nach unserem Kenntnisstand stehen derzeit die Chemielaboranten- und Mechatroniker-Klassen unter Beobachtung, um möglicherweise an einen anderen Berufsschulstandort verlegt zu werden. Dies betrifft in Wiesbaden die Kerschensteinerschule und die Friedrich-Ebert-Schule. Des Weiteren könnten Konstruktionsmechaniker und Anlagenmechaniker betroffen sein. Ge-rade bei diesen Industrieberufen ist es bereits heute extrem schwer, die angebotenen Stellen überhaupt noch zu besetzen. Industriebetriebe zeigen sich daher schon flexibel und bilden stattdessen zum Industriemechaniker aus, müssen die Spezialisierung zum Konstruktions-, Zerspanungs- oder Fertigungsmechaniker jedoch später aufwändig nachschulen.

Der Wiesbadener Industriebeirat bezweifelt nicht die Notwendigkeit, unwirtschaftliche Berufsschulklassen zusammenzuführen und Synergien in der Vermittlung von Fachkompetenz zu heben. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels in der Industrie müssen aber pragmatische – und vielleicht auch unkonventionelle – Lösungen gefunden und durch die Politik ermöglicht werden.

  • Gerade in Regionen, in denen mehrere Bundesländer direkt benachbart sind – wie dies in Wiesbaden und Mainz der Fall ist – sollte eine länderübergreifende Zusammenarbeit geprüft und ggf. entsprechende Verordnungen geändert werden. Ein Konzept, das auf einem Ansatz übergreifend miteinander agierender Regionen und zielgruppenorientierter Annahmen beruht, wäre hier zeitgemäß und sachdienlich. Zu berücksichtigende Zielgruppen des Hessischen Kultusministeriums sollten im Falle der beruflichen Ausbildung die jungen Schülerinnen und Schüler und die ausbildenden Unternehmen sein.
  • Eine zeitgemäße digitale Ausstattung und Infrastruktur der Berufsschulen und entspre-chende digitale methodische Kompetenzen des Lehrpersonals würden die Berufsschu-len ins 21. Jahrhundert katapultieren. Auch wenn wir uns weiter für die Präsenz im Ausbildungsbetrieb und der Berufsschule aussprechen, könnten ausgewählte Inhalte virtuell vermittelt werden. Hierfür müsste der Lehrplan angepasst werden. Somit wür-den lange Wegezeiten oder längere Abwesenheiten im Präsenz-Blockunterricht ver-kürzt. Damit würde gleichzeitig eine Kompetenz zum mobilen Arbeiten erworben, die heute in vielen Berufen bereits zum Arbeitsalltag gehört. Gleichzeitig würde auch der Attraktivität der Berufsschulen und der beruflichen Ausbildung insgesamt neuer Schwung verliehen.
  • Die ÖPNV-Verkehrsinfrastruktur von Wiesbaden in die „ländlichen Regionen“ Hessens ist für minderjährige Schülerinnen und Schüler derzeit noch unbefriedigend. So dauert eine Fahrtrichtung von Wiesbaden Hauptbahnhof nach Gelnhausen Bahnhof (Fachbereich Mechatroniker für Kältetechnik und Verfahrensmechaniker für Kunststoff und Kautschuktechnik) mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Bestfall 1:30 Stunden bis zu 1:50 Stunden. Wenn die Schülerinnen und Schüler weiter als nach Frankfurt zu einer hessi-schen Berufsschule fahren sollen, muss das ÖPNV-Angebot deutlich ausgebaut werden. Darüber hinaus dürfen die jungen Menschen nicht durch hohe Kosten belastet werden.
  • Falls Landesklassen im ländlichen Raum eingerichtet werden, müssen kostengünstige Übernachtungs- und ausreichende sozialpädagogische Betreuungsmöglichkeiten geschaffen werden. Ein Beispiel hierfür stellt das Angebot von Fulda dar. „pings“ war deutschlandweit der erste Azubicampus – ein Ort zum Wohnen, Arbeiten, Lernen und Leben. So könnte die Duale Ausbildung auch für junge Menschen attraktiv werden, die sich sonst für die „Alternative Studium“ entscheiden würden.

Die Industrieunternehmen im Wiesbadener Industriebeirat sind bereit, alles Nötige dafür zu tun, dass die berufliche Ausbildung in ihrer Vielfalt erhalten bleibt. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Rahmenbedingungen unbürokratisch und pragmatisch auch von der Politik gesetzt werden.

Im Wiesbadener Industriebeirat sind Unternehmensleitungen von derzeit 17 Wiesbadener In-dustrieunternehmen unterschiedlicher Größe und Branchen vertreten. Darüber hinaus sind die IHK Wiesbaden, die Handwerkskammer, die Hochschulen RheinMain und Fresenius sowie die Vereinigung hessischer Unternehmerverbände e.V. – Geschäftsstelle Wiesbaden-Rheingau-Taunus engagiert. Die Koordination erfolgt durch das Referat für Wirtschaft und Beschäftigung im Dezernat des Bürgermeisters, der den Vorsitz des Expertengremiums führt. Alle Mitglieder arbeiten engagiert und partnerschaftlich daran, den Industriestandort Wiesbaden zu stärken. „Starke Industrie – Attraktives Wiesbaden“ ist die Formel, unter der die Mitglieder mit internem Austausch und im konstruktiven Dialog die Bedeutung der Industrie für Wiesbaden sichtbar machen und Rahmenbedingungen verbessern wollen. Die im Industriebeirat vertretenen Un-ternehmen verstehen sich als Sprachrohr für die Anliegen der Industrie in der Stadt.

Im Industriebeirat versammelt sich wirtschaftliche Stärke: Die 17 Unternehmen im Beirat be-schäftigen insgesamt über 8.000 Mitarbeitende und mehr als 290 Auszubildende. Das ist mehr als die Hälfte aller in der Industrie beschäftigten Personen in Wiesbaden. Die Unternehmen erwirtschafteten 2021 einen kumulierten Gesamtumsatz von mehr als neun Milliarden Euro.