Positionspapier #2

Fachkräfte zur Zukunftssicherung

September 2023

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Wiesbadener Industrie braucht Fachkräfte zur Zukunftssicherung

Günstiger Wohnraum, Betreuungs- und Bildungsangebote sowie intelligente Vermittlungsansätze sind Schlüsselfaktoren, um den Bedarf an Fachkräften nachhaltig zu sichern.

Erfolgsentscheidende Relevanz

Die Industriebetriebe tragen mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg entscheidend zum Wohlstand und zur Attraktivität der Landeshauptstadt Wiesbaden bei – durch ihre Gewerbesteuern, als Arbeitgeber für unterschiedliche berufliche Qualifikationsniveaus, durch vielfältiges gesellschaftliches und soziales Engagement für die Stadt. Die in den verschiedenen Industriebranchen beschäftigten Menschen sind das Rückgrat des Erfolgs und der ökonomischen Stärke der Industrie.

Corona, demographischer und gesellschaftlicher Wandel, Transformationen unterschiedlicher Art haben zu einer Veränderung des Arbeitsmarktes und des Arbeitskräfteangebots geführt, die sich in den kommenden Jahren auch in der Industrie verschärfen wird.

Der Fachkräftemangel ist deshalb für die Wiesbadener Industriebetriebe im Verlauf der letzten drei bis fünf Jahre zu einer strategischen unternehmerischen Herausforderung geworden. Die Gewinnung von Fachkräften ist eine Aufgabe mit sehr hoher Priorität und wettbewerbsentscheidender Relevanz, die auch Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Wiesbaden hat.

Die Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen umfassen alle Qualifikationsniveaus, von Auszubildenden über beruflich Qualifizierte bis zu Akademikern. Die Besetzung von Stellen ist mit immer längeren Vakanzen und immer höherem Aufwand und damit Kosten verbunden. Besonders dramatisch ist die Lage bei technischen und handwerklichen Ausbildungsberufen und im Bereich Logistik (Lager). Selbst das Werben um anzulernende Arbeitskräfte, die in vielen Bereichen der industriellen Produktion weiterhin unentbehrlich sind, gestaltet sich außerordentlich schwierig und aufwändig. Die negativen Effekte des Fachkräftemangels belasten die Wirtschaftlichkeit und die Wettbewerbssituation der Wiesbadener Industriebetriebe auf vielerlei Ebenen:

  • stark erhöhte zeitliche, personelle und finanzielle Aufwände beim Recruiting
  • aufwändige Nachschulungen von geringer qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern
  • übermäßige Belastung der vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Gefahr mittel- und langfristiger gesundheitlicher Schäden
  • Ausfall, Einschränkung und Verzögerung der Produktion oder industrieller Dienstleistungen mit Auswirkungen auf Lieferketten
  • langfristige Wachstumsdefizite

Der Industriebeirat rechnet damit, dass die demographische Entwicklung die Herausforderungen bei der Werbung geeigneter Fachkräfte in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird.

Unternehmenseigene Maßnahmen stoßen an Grenzen

Mit hohem zeitlichem und finanziellem Engagement sowie innovativen Maßnahmen arbeiten Wiesbadener Industrieunternehmen schon lange daran, die durch das geringe Angebot an Fachkräften erschwerten Rahmenbedingungen beim Recruiting zu kompensieren: Arbeitsbedingungen werden immer attraktiver gestaltet, zusätzliche Benefits geboten. Der Kreis der potenziellen Bewerberinnen und Bewerber wird flexibel ausgeweitet u.a. auf Kräfte mit alternativen Qualifikationen und Menschen mit Migrationshintergrund. Mittels Um- und Nachschulungsmaßnahmen werden Qualifikationsdefizite ausgeglichen. In unternehmensübergreifenden Allianzen und in Kooperation mit Verbänden sowie der Stadt Wiesbaden und weiteren kommunalen/regionalen Institutionen werden Programme und Veranstaltungen zur Arbeitskräfte- und Azubi-Vermittlung initiiert, unterstützt und wahrgenommen.

Die Erfahrung der Recruiting- und Personal-Verantwortlichen in den Wiesbadener Industrieunternehmen zeigt eines: Die geschilderten unternehmenseigenen Maßnahmen sind notwendig, um im Wettbewerb mit anderen Standorten überhaupt noch Chancen auf qualifizierte Bewerber zu haben. Sie sind aber nicht ausreichend, um eine spürbare Entlastung in der sich dramatisch verschärfenden Situation des Fachkräftemangels zu schaffen. Hierzu ist vielmehr ergänzend/unterstützend eine Verbesserung der Standortbedingungen im Verantwortungsbereich der kommunalen Politik gefordert.

Mit der Wiesbadener Industrie für Wiesbadens Zukunft

Wiesbaden ist ein Industriestandort. Die hiesigen Industriebetriebe tragen originär zum städtischen Profil bei und sichern einen signifikanten Teil des Wohlstands der Landeshauptstadt. Ohne Industrie gibt es in Wiesbaden weniger Geld für Kindergärten, Spielplätze, Straßen oder Schulen. Sie sichern als Auftraggeber auch indirekt weitere Arbeitsplätze in benachbarten Bereichen wie dem Handwerk oder bei Dienstleistern. Ohne seine Industrie hat Wiesbaden keine Zukunft. Umso wichtiger ist bei der strategisch entscheidenden Herausforderung des Fachkräftemangels ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen von Stadt und Unternehmen. In diesem Sinn empfehlen die Mitglieder des Wiesbadener Industriebeirats nachdrücklich folgende politischen Weichenstellungen und Maßnahmen.

Wohnraum für alle Einkommensschichten

Derzeit trägt die Wohnraumknappheit dazu bei, dass viele Arbeitsplätze in den Unternehmen Wiesbadens nicht besetzt werden. Industriebetriebe leben ausdrücklich auch von der Arbeitskraft der geringeren und mittleren Einkommensschichten. Für diese ist es inzwischen fast unmöglich, in Wiesbaden adäquaten Wohnraum zu finden. Diesen gewichtigen Wettbewerbsnachteil im Kampf um die besten Arbeitskräfte gilt es durch eine nachhaltige kommunale Wohnraumpolitik zu entschärfen.
Das Thema Wohnraum ist in der Einschätzung des Wiesbadener Industriebeirats so weitreichend wichtig, dass ihm ein eigenes Positionspapier gewidmet wird.

Arbeitnehmerfreundliche Mobilität ist auch Individualverkehr

Angesichts der prekären Lage am Wiesbadener Wohnungsmarkt weichen Arbeitskräfte und Bewerber der Wiesbadener Industrie verstärkt auf das weitere Umland des Rheingaus und des Taunus aus. Für diese gibt es für den Weg zur Arbeit absehbar keine Alternative zum Pkw. Die ausdrückliche Akzeptanz und die infrastrukturelle Förderung des Individualverkehrs durch die Stadt Wiesbaden bilden daher einen wichtigen Beitrag der Kommune im Kampf gegen den Fachkräftemangel.

Im Bereich des ÖPNV muss dies durch eine verbesserte Anbindung (Strecken und Takt) der typischen Wiesbadener Industriestandorte im Süden und Osten der Stadt flankiert werden. Der nachhaltige Ausbau des ÖPNV sollte insbesondere die Mobilitätsbedürfnisse von Studierenden und Azubis berücksichtigen und so zur Attraktivität des Hochschul- und Ausbildungsstandorts Wiesbaden beitragen.

Bedarfsorientierte Betreuungsangebote

Im regionalen Wettbewerb der Arbeitsstandorte spielt das Angebot der Kinderbetreuung eine entscheidende Rolle. Wenn es Wiesbaden gelingt, das pauschale Angebot des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz in die konkrete Zusage einer schnellen, wohnortnahen Betreuung zu verwandeln, gehen die Wiesbadener Industrieunternehmen von starken positiven Effekten auf ihre Rekrutierungsanstrengung aus. Die Stadt ist gefordert, durch Investitionen in diesem Bereich die langfristigen Standortbedingungen für die Industrie zu verbessern und so künftigen Wohlstand zu sichern. Es ist für ein flächendeckend ausreichendes und bezahlbares Betreuungsangebot zu sorgen, so dass Industriebetriebe insbesondere auch Wiedereinsteigerinnen und Familien für die Option von Vollzeitarbeit gewinnen können.

Bildungsexzellenz bildet und bindet Fachkräfte

Azubis sind die Fachkräfte von morgen. Der Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte findet auch in den Unterrichtsräumen der Berufsschulen statt. Der Industriebeirat empfiehlt der Stadt als Schulträger nachdrücklich, die Ausstattung und das Digitalisierungsniveau schnell und umfangreich zu verbessern (siehe auch Positionspapier “Zukunftsfähige Berufsschule” des Industriebeirats Wiesbaden vom September 2022). Ungeachtet der hohen Qualität der unternehmensseitigen Ausbildungsangebote ist ansonsten ein Abwandern von Auszubildenden an die als attraktiver empfundenen Standorte Frankfurt und Mainz zu befürchten.

Ergänzend gilt es unbedingt, auch für Auszubildende gut finanzierbaren Wohnraum anzubieten. Die geplanten Azubi-Wohnheime dürfen aus Sicht der Wiesbadener Industrie auf keinen Fall bestimmten Ausbildungsberufen vorbehalten sein, sondern müssen vor allem auch den dringend gesuchten Azubis technischer Fachrichtungen zur Verfügung stehen. Der Wiesbadener Industriebeirat ist bereit, sich in konzeptionellen Überlegungen zusammen mit der Stadt und den Gewerkschaften zu engagieren, um bedarfsgerechte Lösungen herbeizuführen.

Nicht weniger wichtig in Sachen Fachkräfte ist die Wahrnehmung Wiesbadens als Studienort. Der Industriebeirat bietet der Stadt seine Partnerschaft für eine stärkere Integration der Studierenden in die Stadtgesellschaft zum Beispiel durch gemeinsame Veranstaltungen und gezielte Informationsangebote an.

Intelligente Vermittlungsplattformen auch für Arbeitssuchende mit Migrationshintergrund

Die Wiesbadener Industrieunternehmen haben sehr gute Erfahrungen mit den existierenden Kooperationen mit der Stadt im Bereich Recruiting und Employer Branding gemacht (Azubimessen, Speed Datings, Industrie in der Innenstadt, und weiteren Aktivitäten im Rahmen der Fachkräfteinitiative Industrie des Referats für Wirtschaft und Beschäftigung). Diese wertvolle Zusammenarbeit sollte verstetigt und ausgebaut werden. Hierfür müssen finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Stadt sollte gegenüber der Wirtschaft dabei verstärkt als Vermittler zu weiteren kommunalen und regionalen Institutionen wie Berufsbildungswerken u.a. aktiv werden.

Einen vielversprechenden Ansatz sieht der Wiesbadener Industriebeirat in der verstärkten Vermittlung von Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund. Die Bereitschaft, diese in reguläre Arbeitsverhältnisse zu bringen, ist sehr groß. Die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme werden aktuell aber als unzureichend empfunden. Der erhoffte Beitrag der Stadt besteht einerseits in der gemeinsamen Entwicklung von geeigneten Vermittlungsformaten (Plattformen, Veranstaltungen, Vernetzung). Andererseits in der Entwicklung einer städtischen Betreuungs- und Organisationskultur, die eine entsprechende Integration bewirbt und fördert.

Marketing für den Industriestandort Wiesbaden

Wiesbaden hat eine gewachsene, lebendige Industriekultur. Leistungsstarke und innovative Industriestandorte bereichern das Wirtschaftsleben und das Stadtbild. Sie bilden dabei einen dynamischen Gegenpol zum etablierten Setting von Wiesbaden als Kur- und Kulturstadt.

Der industrielle Part im Imagespektrum von Wiesbaden soll im Rahmen des Stadtmarketings aufbereitet und aktiv für die Positionierung von Wiesbaden als attraktivem Industriestandort genutzt werden. Es gibt in Deutschland wenige Städte, in denen sich historische gewachsene, gut erhaltene Bausubstanz aus der Gründerzeit mit Kur- und Kulturstadtflair verbindet mit hochmoderner, international ausgerichteter Industrie. Diese Symbiose ist ein Pfund, mit dem Wiesbaden im Stadtmarketing gegenüber anderen Städten, insbesondere in der Rhein-Main-Region, punkten sollte. Eine so gestärkte Wahrnehmung Wiesbadens wird sich insbesondere im überregionalen Wettbewerb um Fachkräfte ganz sicher positiv auswirken.

Interkommunale Kooperation und Positionierung in Rhein-Main

Große, bisher ungenutzte Potentiale bei der Verbesserung der Standortbedingungen Wiesbadens in Sachen Fachkräfte sieht der Industriebeirat durch verstärkte Kooperationen mit Nachbarstädten, v.a. mit Mainz (z.B. im Bereich der beruflichen Bildung), und einer systematischen Verstärkung der Zusammenarbeit mit Institutionen des Rhein-Main-Gebiets. Die Positionierung von Wiesbaden als zentralem Standort im Rhein-Main-Gebiet dürfte die Strahlkraft der Landeshauptstadt sowohl als Arbeitsort als auch als Wohn- und Lebensraum verstärken und hat die Chance, auch ein jüngeres und internationales Publikum anzusprechen.